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Wo Veränderung beginnt

Wie ist es möglich, dass einleuchtende politische, soziale und ökonomische Zukunftskonzepte trotz unmenschlicher Zustände auf so wenig fruchtbaren Boden fallen? Muss sich das so fähige und so zerbrechliche Wesen Mensch grundsätzlich entscheiden, wie es mit seinen paradiesischen Ursehnsüchten und seinem Gefährdet-Sein umgehen will: vertrauensvoll oder ängstlich, mit Zuversicht oder doch eher mit Macht und Gewalt, in Verbundenheit mit Andern oder in unerbittlicher Konkurrenz?

 

Jeder Mensch hat seinen ureigenen Weg, in Freude zu leben – bei allem Schmerz, der zum menschlichen Leben in seiner Begrenztheit gehört. Allen diesen Wegen ist gemein, dass sie in einer von Ablehnung und Ausgrenzung beherrschten Welt gegangen werden, einem das Leben verneinenden System.
Wer dieses «System des Neins zum Leben» ändern will, muss zuerst verstehen, warum wir nicht nur Nein zum Verhalten eines Menschen sagen, sondern gleich zur ganzen Person und warum wir uns überhaupt gegen Menschen entscheiden, seien dies Dritte oder wir selber.

An der Wurzel dieser Ablehnung des Lebens liegt die Angst, die erlernte Angst, nicht genug zu haben, nicht genug zu sein, nicht zu genügen. Diese Angst stellt sich unweigerlich ein, wenn unser Empfinden als Kinder nicht bestätigt wird und ein Widerspruch zwischen der eigenen Wahrheit und dem verneinenden Verhalten der Umwelt entsteht. Dann erscheint das ganze «Projekt», als Mensch in der Welt zu sein, undurchsichtig und gefährlich. Der kleine Mensch fragt sich dann: Was stimmt nicht mit mir, dass ich so anders wahrnehme als die anderen? Was stimmt nicht mit der Welt, dass sie so anders wahrnimmt als ich? Was stimmt nicht mit diesem Leben, in dem so etwas möglich ist? Worauf kann ich noch vertrauen, welcher Maßstab bietet mir Sicherheit und Orientierung in dieser unzuverlässigen Welt?

Je mehr diese eigene Wahrnehmung von der Familie, der Schule und der Gesellschaft abgelehnt wird, desto konsequenter bekämpfen wir dieses Andere in uns – und später auch in anderen. Wir lernen, dass das Andere abzulehnen und zu bekämpfen ist. In einem solchen System des Neins zu leben, bedeutet dann, nur mit dem familiär und gesellschaftlich annehmbaren Teil der eigenen Person angenommen zu sein, also den nicht angenommenen Teil zu verbergen und ihn zu bekämpfen – bei sich und den anderen.

Der teilangenommene Mensch, der Mensch des Neins lebt in der Not, sein abgetrenntes, isoliertes und deshalb zerbrechliches Dasein mit aller Macht erhalten zu müssen, und zwar letztlich bedingungslos, mit allen Graden der Abgrenzung, des Besser-Sein-Wollens, bis hin zur Ausbeutung und Vernichtung der als nichtvertrauenswürdig erlebten Anderen. Der Mensch des 21.Jahrhunderts steht also vor einer Grundentscheidung: Entweder es gelingt ihm, das Andere in sich und den anderen von vornherein anzunehmen – letztlich bedingungslos –, oder er wird das Andere in sich und den anderen weiterhin ablehnen und bekämpfen müssen, und zwar im Zweifelsfall nicht weniger bedingungslos – mit den absehbar katastrophalen Folgen.

Wir fassen zusammen: Was auf der Ebene der Gesellschaften das friedliche, freudvolle und schöpferische Miteinanderleben verhindert und immer stärkeren Druck ausübt, verhindert auf der Ebene des Einzelnen dessen Existenz. Sich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene wechselseitig erhaltend und verstärkend, kann das System des Neins jedoch nur solange Unheil und Vernichtung produzieren, wie es Menschen findet, die die Verneinung bei sich und anderen praktizieren.

Daraus schließen wir: Wer sein Gegenüber in erster Linie als gleichwürdiges Du statt als Objekt eigener Bedürfnisse zu behandeln vermag, kann dies nur, wenn er dessen einzigartiges Leben ungeteilt bejaht, was kaum vorstellbar ist ohne das ungeteilte Ja zum eigenen einzigartigen Leben. Bildet das Verhältnis jedes Menschen zu sich selbst unweigerlich den Maßstab für alle anderen Verhältnisse zur Welt, könnte eine grundlegende Aufgabe für Menschen, die zu einer freudvolleren und friedlicheren Welt beitragen wollen, darin bestehen, ihr Grundverhältnis zu sich selbst von Zweifeln und Misstrauen zu klären.

Dies könnte bedeuten, sich auch im Engagement für eine bessere Welt mehr in den Wegen des Ja zu üben und weniger auf Strategien der Überlegenheit und Durchsetzung zu spekulieren, seien sie noch so moralisch oder demokratisch. Wir könnten versuchen, jedem Vertreter der Gegenseite als einem mit uns verbundenen Mitmenschen zu begegnen, dessen unangenehme Verhaltensweisen vielleicht entfernte Ähnlichkeiten mit unseren eigenen ungeliebten Seiten aufweisen. Wir könnten versuchen, in unangenehmen Lebenssituationen zuerst uns selber anzunehmen, bevor wir sie und uns zu verändern suchen (Herzweg). Wir könnten versuchen, Gegenpositionen immer gleichberechtigt mitzudenken und diesen Gegensatz in uns auszuhalten (Denkweg). Dies würde viel Mut und Geduld erfordern, allerdings könnten wir auf diese Weise mindestens uns und die von uns eingesetzten Mittel mit der friedvollen und freudvollen Farbe unserer hehren Ziele durchdringen.

Kurz: Wir könnten uns als die Menschen akzeptieren, die wir waren und immer noch sind, und damit zu den Menschen werden, die wir sein können. Wir könnten die anderen als die Menschen akzeptieren, die sie waren und sind, und ihnen auf diese Weise helfen, die Menschen zu werden, die sie sein können. All dies uns selbst, unseren Mitmenschen und der Gemeinschaft allen Lebens zur Freude. Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?